_Exempla docent_. Bedeutung paradigmatischer Vorstellungen für die Funktionsweise mediterraner Gesellschaften des 4.-8. Jhs.

_Exempla docent_. Bedeutung paradigmatischer Vorstellungen für die Funktionsweise mediterraner Gesellschaften des 4.-8. Jhs.

Organisatoren
Sebastian Scholz / Nikolas Hächler / Philip Zimmermann / Sabrina Vogt , Universität Zürich
PLZ
8000
Ort
Zürich
Land
Switzerland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
09.06.2022 - 10.06.2022
Von
Sabrina Vogt, Historisches Seminar, Universität Zürich; Nikolas Hächler, Historisches Seminar, Universität Zürich

Ziel des Workshops war es, Vorbilder (exempla) als Handlungsanweisungen und normative Konzepte für das erwartete Gelingen spätantik-frühmittelalterlicher Gesellschaften des Mittelmeerraums zu diskutieren.

In der Einführung erläuterten NIKOLAS HÄCHLER (Zürich) und PHILIP ZIMMERMANN (Zürich) zunächst den lateinischen Begriff exemplum und den griechischen Terminus parádeigma und erklärten, dass beiden Bezeichnungen ein umfangreiches Bedeutungsspektrum zugrunde liege. Bewusst offen wurde deshalb das Untersuchungsfeld des Workshops angelegt, um eine möglichst breite Grundlage an beispielhaften Normen und Verhaltensweisen thematisieren zu können: Drei Schwerpunkte, nämlich Herrschaft, Religion und Recht, standen im Mittelpunkt. Anhand von Fallbeispielen aus dem Werk Gregors von Tours wurde der theoretische Teil der Einführung weiter verdeutlicht.

Die Vorträge wurden mit Erörterungen der Kontinuität und Transformation von Herrschaftsideologien eröffnet. Dabei ging es zunächst um die Ausgestaltung der oströmischen Monarchie, wobei die ambivalente Herrschaft des oströmischen Kaisers Herakleios eine zentrale Stellung einnahm.

MISCHA MEIER (Tübingen) demonstrierte, dass Herakleios als oströmischer Kaiser einerseits der traditionellen Kaiserideologie verhaftet war, andererseits aufgrund äußerer Rahmenbedingungen gezwungen wurde, ein neues Selbstbild zu vermitteln, das gerade nach seinen Siegen gegen die Sassaniden nach 628 beispielhaft-christusgleich sein sollte. Dieses Kaiserbild war keineswegs statisch, denn während er sich bei seiner Ankunft in Konstantinopel als Christus triumphans inszenierte, verkörperte er im Zuge seiner Einzüge in Jerusalem 629 und insbesondere 630 im Rahmen der restitutio crucis jeweils nicht den siegenden, sondern den demütigen Kaiser. In beiden Fällen sollten allerdings Erinnerungen an Christus’ Triumphe evoziert und der Kaiser damit als messianische Heilsgestalt inszeniert werden.

ANASTASIA SIROTENKO (München) führte aus, dass das Kaiserbild des Herakleios im Osten und im Westen Transformationen unterworfen war. In der dyotheletischen Geschichtsschreibung des Ostens wurde Herakleios als Häretiker und die muslimische Invasion als Strafe Gottes für seine monotheletisch-monoenergetische Kompromisslösung dargestellt, wodurch er vielen als ein negatives exemplum für eine misslungene Kaiserherrschaft galt. Im Westen stand vor dem Hintergrund der erfolgreichen Rückführung der Kreuzesreliquie nach Jerusalem dagegen die positiver wahrgenommene Neuinterpretation der Liturgie durch Herakleios im Fokus, insbesondere wegen der Einführung des Kreuzerhöhungfestes.

Der Beitrag zu den Herrschaftsideologien von JOHANNES WIENAND (Braunschweig) beschäftigte sich insbesondere mit zwei Lobreden des Eusebius von Caesarea auf Kaiser Konstantin den Großen und erkundete, wie der Bischof seine christliche Herrscherpanegyrik, welche die Wirkmacht Gottes verdeutlichen sollte, entwickelte, im Endeffekt mit seinen Vorstellungen gelungener Kaiserherrschaft in Auseinandersetzung mit Konstantin I. allerdings scheiterte. Ein Grund für das Misslingen seines Vorhabens waren die unterschiedlichen Vorstellungen, die Eusebius und Konstantin von einem beispielhaften Herrscher hatten: Die Selbstinszenierung Konstantins als siegreicher Kaiser, als Inhaber priesterlicher Vollmachten und Nachfolger Christi auf Erden widersprach Eusebius’ Idee, dass Gott allein für den Sieg über die Feinde verantwortlich war; auch der mächtige Kaiser war aus seiner Warte in erster Linie ein Werkzeug Gottes in der Welt zur Realisierung seines ewigen Heilsplans.

Die Sektion zur Religion wurde mit einem Vortrag von MAYA MASKARINEC (Los Angeles) zu den frühmittelalterlichen Heiligen in Rom eröffnet. Sie belegte anschaulich, dass sich die Antwort auf die Frage, wie sich die Gesellschaft des frühmittelalterlichen Roms mit den Beispielen heiliger Frauen und Männer (exempla sanctorum) identifizierte und praktisch mit ihnen interagierte, komplex ausnahm. Zwar konnten männliche Heilige als exempla für Soldaten und weibliche Heilige als Vorbilder für Laiinnen der höchsten gesellschaftlichen Schichten dienen, aber tatsächlich schien ihre Funktion als übermenschliche Wunderwirkende im Vordergrund zu stehen. Eine direkte Nachahmung ihrer unglaublichen Taten war nicht das primäre Ziel ihrer kultischen Verehrung. Praxisnahe exempla waren für die Gläubigen dagegen die sekundären Charaktere in Heiligenviten, wie der Vater des heiligen Alexius, der mit seiner großzügigen Schenkung ein besser zur Nachahmung geeignetes Beispiel bot als sein in einer sexuell enthaltsamen Ehe lebender Sohn.

ANGELA KINNEY (Wien) widmete sich in ihrem Beitrag dem Gebrauch von exempla in den Lobreden (encomia) des Hieronymus für seine ‚Freundinnen‘, sprich seine Anhängerinnen, Förderinnen und Vertrauten. Auf einer theoretischen Ebene verdeutlichte sie anhand der Spiegelmetaphorik zunächst, dass exempla ihre Umgebung widerspiegeln und dabei oft illusionäre Nähe erzeugen. Diese Einsicht werde in der Komplexität der weiblichen exempla, die Hieronymus bietet, reflektiert, unter anderem in seinem Lob der Demetrias anlässlich ihres Jungfräulichkeitsgelübdes. Die fama verbreitete diese Nachricht von Demetrias’ Jungfräulichkeit in der ganzen Welt und reichte dabei sogar noch weiter als die fama Vergils. Sie sollte in der Folge andere Frauen zu denselben Handlungen inspirieren. Die von Hieronymus skizzierten Ideale weiblicher Wohltätigkeit gegenüber monastischen Kontexten sollten damit exemplarische Funktionen entfalten.

Eine reichhaltige Sammlung an exempla bieten die Briefe des Basilius von Caesarea und des Theodor Stoudites, deren enge Verbindung von MARIA-LUCIA GOIANA (Wien) untersucht wurde. Durch das epistolographische Format konnten die beiden unter anderem spirituellen Rat geben und ihre eigenen theologischen und politischen Ansichten rechtfertigend illustrieren. Maria-Lucia Goiana betonte drei Kategorien von exempla, die im privaten oder öffentlichen Rahmen verwendet werden konnten: klassisch/pagane, biblische und hagiographische. Vor allem biblischen Beispiele nahmen bei Basilius und Theodor eine zentrale Stellung ein. Sie wurden den Adressaten vorgeführt, wie etwa die Figur des Hiob, der sowohl von Basilius als auch von Theodor in Trostbriefen als Beispiel für vorbildliches Verhalten in Krisenzeiten angeführt wurde. Das Ziel dieser exempla war es, zur imitierenden Adaptation im eigenen Leben anzuregen.

In der dritten Sektion zum Recht referierte STEFAN ESDERS (Berlin) über Isidor von Sevilla und den sogenannten Prolog zur Lex Baiuvariorum. Dabei ging es um normative exempla und Konzeptionen sowie um Rechtstraditionen und -adaptionen. Zentral war, dass Isidor seinen Abschnitt De legibus in seinen Etymologien mit Moses beginnt und die Gesetzgebung dadurch in einen jüdisch-christlichen Rahmen einfügt. Isidor lässt seine Darstellung bezeichnenderweise mit dem Codex Theodosianus respektive der Lex Romana Visigothorum und nicht dem Codex Iustinianus schließen. Die verschiedenen Beispiele aus der Rechtstradition erreichten folglich ihren Höhepunkt im Codex Theodosianus. Die fränkische Adaption dieses Abschnittes aus dem 7. Jahrhundert findet sich dann in zahlreichen Prologen diverser gentiler Leges wieder, wobei die Franken den Sinn von Isidors Rechtsbeispielen, welche die Tradition des römischen Rechts begründen sollten, zugunsten eines Rechtspluralismus aufhoben und die beispielhaften Rechtstexte für ihre eigene Interpretation nutzten.

Auch LUKAS BOTHE (Berlin) ging in seinem Beitrag zur Kompilation der Lex Ribuaria auf die Verschränkung verschiedener Rechtssysteme im Frankenreich ein. Im Besonderen erörterte er die Frage, ob normative Anweisungen in den Rechtstexten die Gesellschaft beeinflusst haben oder ob sie der bloßen Herrschaftslegitimation dienten. Dabei stellte sich heraus, dass die Kompilatoren der Lex Ribuaria bewusst mit ihren Vorlagen – die ebenfalls Kaisergesetze aus dem Codex Theodosianus oder das burgundische Recht umfassten – umgingen. Zentral waren für die Lex Ribuaria speziell die merowingischen Herrschererlasse, die selbst als ad hoc-Gesetzgebung bezeichnet werden können. Indem die Kompilatoren der Lex Ribuaria auf diese normativen exempla zurückgriffen, verliehen sie ihnen zugleich neue Signifikanz, die Rechtssicherheit begründen sollte.

Im letzten Vortrag erörterte WOLFRAM BRANDES (Frankfurt am Main), dass in den ersten zehn Jahren des 9. Jahrhunderts unter dem byzantinischen Kaiser Nikephoros I. eine ganze Reihe von Titeln, Ämtern und Institutionen aus der Spätantike in Bezug auf die Finanzverwaltung wieder auftraten, die man unter dem von ihm geprägten Begriff einer „administrative Protorenaissance“ zusammenfassen kann. Im Zusammenhang mit der wenig schmeichelhaften Darstellung des Nikephoros und seiner Finanzpolitik in der Chronographia des Theophanes wurden auch die Naukleroi erwähnt; ein Gesetz über diese war im spätrömischen kodifizierten Recht (inzwischen in griechischer Übersetzung) enthalten. Des Weiteren belegt ein Brief des in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts wirkenden Klerikers Ignatios Diakonos, dass es einen durch Naukleroi durchgeführten staatlichen Getreideverkehr zu dieser Zeit gab. Während der „administrativen Protorenaissance“ wurden daher Amtsfunktionen und -titel aus früheren Epochen der oströmisch-byzantinischen Geschichte wiederaufgegriffen, bezeichneten nun aber in der Regel Amtsträger mit anderen Funktionen.

Die Zusammenfassung von NIKOLAS HÄCHLER (Zürich) und SABRINA VOGT (Zürich) gliederte sich in vier Teile: 1) eine Zusammenfassung der Vorträge, 2) eine Erläuterung der Funktionen von exempla, 3) die Verbindungen zwischen Osten und Westen und 4) etwaige Kontinuitäten und Brüche über die Zeit hinweg.

Wie der Workshop auf vielfältige Weise illustrierte, dienten Beispiele vor allem dazu, abstrakte und oft idealisierte Sachverhalte möglichst anschaulich zu machen und als für das Handeln von Menschen relevant darzustellen. Sie generierten gemeinschaftlichen und möglicherweise auch individuellen Sinn, indem sie Erlebtes mit Blick in die Vergangenheit in eine nachvollziehbare Geschichte einbanden. Regenten richteten ihre Herrschaft in der Öffentlichkeit nach guten Beispielen aus und versuchten damit gleichzeitig selbst beispielhaft zu wirken. Was jeweils als nachahmungswürdig galt, musste jedoch immer wieder neu im Dialog zwischen unterschiedlichen an der Macht beteiligten Personengruppen ausgehandelt werden. Heilige gaben nicht nur Antworten auf die Frage, was man sich als Individuum und als Gesellschaft erhoffen könne, sondern zeigten auch konkrete Wege zu einer ewig währenden und glückseligen Existenz an Gottes Seite auf. So demonstrierten sie, wie man in Nachahmung Christi mit Reichtümern umzugehen hatte, wie man als miles Christi im Staatsdienst und im Heereswesen dienen konnte oder wie man Familienkonstellationen denken sollte.

Es stellte sich zudem heraus, dass die spätantik-frühmittelalterliche Mittelmeerwelt nach wie vor als vernetzter Raum betrachtet werden muss und künstliche Grenzziehungen zugunsten einer globaleren Perspektive zu hinterfragen sind. Zugleich müssen allerdings auch Differenzierungen definiert werden: Während Heiligenkulte auf globalem Wege in den Westen Einzug hielten, mussten sie lokal verankert sein, um langfristig zu bestehen. Wurden ursprünglich lokal-regional verankerte Heiligenkulte wiederum im Rahmen der herrscherlichen Selbstrepräsentation aufgegriffen, konnte ihnen in der Folge reichsweite Bedeutung zukommen. Gerade der sich schrittweise wandelnde Umgang mit Beispielen kann in diesem Zusammenhang Transformationen im Mittelmeerraum verdeutlichen. Brüche sind dabei insbesondere im Kontext der sich wandelnden kulturellen Gegebenheiten und Sprachlandschaften zu erkennen.

Die Tagung verwies schließlich auf offene Fragen. Von Interesse sind insbesondere die konkreten Strategien zur Etablierung von Beispielen und beispielhaftem Verhalten in spätantik-frühmittelalterlichen Gesellschaften sowie zur Art und Weise der über die Zeit hinweg stattfindenden Aktualisierung einzelner exempla. Schließlich sind auch die Grenzen von paradigmatischen Vorstellungen auszuloten. So ist zu fragen, ob und inwiefern sich die jüngst von Jack Tannous als „simple believers“ in seiner 2018 erschienen Studie The Making of the Medieval Middle East identifizierten Reichsbewohner, die in erster Linie mit ihren eigenen alltäglichen Problemen beschäftigt waren, tatsächlich von den behandelten Beispielen angesprochen fühlten. Der Workshop verdeutlichte abschließend, dass die in den Vorträgen vorgestellten exempla – bezogen sie sich nun auf Herrscher, Heilige oder Rechtstexte – alles andere als eindimensionale, normative Konzepte und Handlungsanweisungen vermittelten, sondern Deutungsspielräume eröffneten, die sich zwischen Tradition und Innovation bewegten und im Kontext ihrer Entstehung und Überlieferung zu interpretieren sind.

Konferenzübersicht:

Begrüßung durch die Veranstalter und Einführung

Sektion I: Kontinuität und Transformation von Herrschaftsideologien
Sektionsleitung: Nikolas Hächler, Zürich

Mischa Meier (Tübingen): Die Neufassung der oströmischen Monarchie unter Herakleios (610-641)

Anastasia Sirotenko (München): Verfechter der christlichen Welt und Häretiker: Strategien der Darstellung des Kaisers Herakleios in der dyotheletischen Geschichtsschreibung

Johannes Wienand (Braunschweig): Herrscherlob statt Fürstenspiegel. Die erstaunliche Persistenz der spätantiken Panegyrik

Sektion II: Exempla sanctorum – Funktion und Bedeutung von Heiligen- und Reliquienkulten
Sektionsleitung: Gordon Blennemann, Montreal

Maya Maskarinec (Los Angeles): Saints for all occasions in early medieval Rome

Angela Kinney (Wien): Jerome’s use of exempla in encomia for his female friends

Maria-Lucia Goiana (Wien): Exempla in the letters of Basil of Caesarea (c. 330-378) and Theodore the Stoudite (759-826). Selection, contexts, and functions

Sektion III: Die Bedeutung der Rechtsliteratur für das Gelingen von spätantik-frühmittelalterlichen Gesellschaftsformen
Sektionsleitung: Sebastian Scholz, Zürich

Stefan Esders (Berlin): Moyses gentis Hebreae primus omnium divinas leges sacris litteris explicavit: Isidor von Sevilla (gest. 636) und die antiken Gesetzgebungstraditionen

Lukas Bothe (Berlin): Die Kompilation der Lex Ribuaria im Licht spätrömischer ad-hoc Gesetzgebung

Wolfram Brandes (Frankfurt): Anmerkungen zur makedonischen ‚Protorenaissance‘: Reflexe des Codex Theodosianus im frühen 9. Jh.?

Zusammenfassung durch die Veranstalter

Redaktion
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